Ein Stromnetz für die Zukunft

Digital und dezentral

24.02.2025

Viele kleine Erzeuger ersetzen Großkraftwerke. E-Autos und Wärmepumpen erhöhen den Strombedarf. Verbraucher werden zu Produzenten. Was heißt das eigentlich für unser Stromnetz? Die Antwort ist ganz schön kompliziert.

    EIN SONNIGER TAG in Hattingen an der Ruhr. Die Solaranlage auf dem Eigenheim von Familie Böhmer produziert reichlich Strom: 6,1 Kilowatt (kW) zeigt die smarte Energiemanager-App an.

    Das Haus benötigt aktuell 0,3 kW – der Rest fließt in den Batteriespeicher im Keller, der nachts den Warmwasserboiler der Wärmepumpe mit Strom versorgt. Die Photovoltaikanlage auf dem Neubau kann rund 10.000 Kilowattstunden (kWh) Strom im Jahr produzieren. Also viel mehr, als die 3.000 kWh, die Böhmers im Schnitt verbrauchen. Überschüsse, die nicht gespeichert werden können, speisen sie in das AVU-Stromnetz ein.

    Familie Böhmer steht beispielhaft für rund 1,2 Millionen sogenannter „Prosumer“ in Deutschland, die den Strom ihrer Solaranlage als Haushaltsstrom, für ihre Wärmepumpe oder zum Laden ihres E-Autos nutzen. Sie sind also zugleich Produzenten und Konsumenten. Und es werden täglich mehr.

    Herausforderungen für die Energieversorger

    Schon heute kann deshalb der in den Mittagstunden erzeugte Solarstrom manchmal nicht in das Stromnetz eingespeist werden. Stromerzeugung wird dezentraler. Die Energiewende stellt die Energieversorger vor besondere Herausforderungen. Früher wurde Strom in einzelnen Großkraftwerken erzeugt, über Höchstspannungsleitungen transportiert und dann mit niedriger Spannung in der Fläche weiterverteilt.

    Für diese Aufgabe wurden die Netze in den vergangenen 120 Jahren gebaut. Heute gibt es im ganzen Land Stromerzeuger. Nicht nur Haushalte, auch Unternehmen speisen Strom aus Sonne, Wind, Biomasse oder Geothermie ein. Auch im Ennepe-Ruhr-Kreis. Noch verursachen diese neuen Einspeiser keine Engpässe. „Aber das wird kommen“, prognostiziert Dr. Mara Holt, Leiterin des Bereichs Netz- und Anlagenführung bei der AVU Netz in Gevelsberg.

      Strombedarf nimmt rasant zu

      Doch selbst wenn bei uns demnächst Großwindanlagen gebaut werden: Dieser Strom reicht bei Weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken. „Wir sind schließlich eine Region mit viel Industrie und die benötigt viel Energie“, so die Elektroingenieurin. Die Energiewende bringt es mit sich, dass Strom nicht dort produziert wird, wo die großen Verbraucher sind.

      Im Norden Deutschlands wird zum Beispiel massig Windstrom erzeugt, der aber oft nicht bei uns ankommt, weil die Übertragungskapazitäten fehlen. Gleichzeitig wächst der Strombedarf für Elektroautos, Wärme pumpen und auch Elektrolyse-Anlagen, die grünen Wasserstoff für die Industrie herstellen, rasant. Große Übertragungsnetzbetreiber bauen daher ihre Höchstspannungstrassen für viele Milliarden Euro aus.

        Sonne und Wind sind launisch

        Und auch die AVU Netz investiert in die Infrastruktur von morgen. In ihrer zentralen Leitstelle in Gevelsberg überwachen die Mitarbeitenden mehr als 3.500 Kilometer Hoch-, Mittel- und Niederspannungsleitungen. Inzwischen speisen hier rund 5.500 Erzeugungs-anlagen grünen Strom ein – in rauen Mengen oder in kleinen Dosen, denn Sonne und Wind sind launisch.

        „Um das Stromnetz stabil zu halten, müssen Erzeugung und Verbrauch jederzeit in Balance sein. Der Verbrauch richtet sich aber nicht danach, wann die Erneuerbaren liefern – zumindest noch nicht“, sagt Netzchefin Mara Holt.

          Digitalisierung ist der Schlüssel

          Diese Herausforderung sollen bald schlaue Stromnetze lösen, die Smart Grids. Sie schaffen mit digitaler Mess-, Regelungs- und Steuerungselektronik das nötige Gleichgewicht im Stromnetz von der Hoch- und Mittelsspannungsebene bis hin zu den Verteilnetzen vor Ort. Und um den Energiefluss in den Verteilnetzen besser steuern zu können, gibt es die Smart Meter. Die Intelligenten Messsysteme liefern verschlüsselte Daten, die in Echtzeit die Energieflüsse messen und sie sogar voraussagen können.

          Verbrauch auf später verschieben

          So kann man zum Beispiel erkennen, ob in einer bestimmten Straße gerade viele Elektroautos geladen werden und ob dort womöglich ein Engpass entstehen kann. Über kleine Steuerboxen an den Smart Metern ließe sich bei einem Stromdefizit beispielsweise das Laden einzelner E-Autos zeitlich verschieben. Ohne Komforteinbußen für die Halter. Bei einem Stromüberschuss könnte der Netzbetreiber die Einspeiseleistung von Solaranlagen kurzzeitig drosseln oder Wärmepumpen mehr Strom zuteilen. All das geschieht in Smart Grids dank künstlicher Intelligenz weitgehend automatisiert.

            Strom nutzen, wenn er günstig ist

            Smart Meter ermöglichen bald neue dynamische Tarife. Geplant ist, dass bei ihnen der Strompreis im Tagesverlauf je nach Angebot und Nachfrage steigt oder sinkt. Wäsche waschen, Saugen oder das E-Auto laden wäre dann günstiger, wenn der Wind kräftig weht und die Sonne scheint. AVU-Netzchefin Mara Holt sieht darin einen doppelten Nutzen: „Verbraucher können ihre Stromkosten senken und sogar helfen, die Versorgung zu stabilisieren.“

            2025 werden die dynamischen Tarife in ganz Deutschland eingeführt. Glücklich, wer dann schon eine Solaranlage mit Speicher besitzt. So wie Familie Böhmer in Hattingen. Dadurch kann sie nachts für ihre Wärmepumpe den günstigen Netzstrom nutzen. Mit einem Elektroauto würden Böhmers sogar noch mehr sparen.